Zwar geht es in diesem Artikel von 1936 um die Insulaner der Ostfriesischen Inseln im Allgemeinen, doch in fast allen Punkten trifft er auch auf die Wangerooger Bevölkerung zu. Der Artikel entstammt »Köhlers Flotten-Kalender 1936 – Das deutsche Jahrbuch!« aus dem Verlag Wilhelm Köhler, Minden in Westfalen und wurde verfaßt von Cornelius Scharphius, Borkum.
Es ist nicht etwa die derbe Luft, alles zu kritisieren, auch nicht gar der Drang, möglichst auszuposaunen, der mich trieb, einmal der Frage nach der Winterbeschäftigung unserer Inselbewohner nachzugehen, es ist vielmehr das Bedürfnis, den sommerlichen Gästen unserer Nordseeinseln ein Bild zu geben von dem unermüdlichen Schaffen und Streben der Inselbewohner und sie von dem Wert des im Sommer Gebotenen und der Berechtigung der sich daraus ergebenen Forderungen zu überzeugen.
»Na denn man tau,« rufe ich allen Neugierigen zu, die während des Sommers bald hier und bald da an einen herantreten mit der Frage: »Ja, aber sagen Sie mal, was machen Sie eigentlich den ganzen lieben Winter? Ich denke mir das schauderhaft! Sie liegen wohl den ganzen Tag zu Bett?!« usw. – Tja, das klingt doch ungefähr so, als wenn das Wörtchen Arbeit im Winter überhaupt aus dem Wörterverzeichnis der Inselbewohner gestrichen wäre! Deshalb wird der Gefragte im ersten Augenblick ein wenig geistreiches Gesicht machen ob solcher Frage und dann eine ungenügende und wenig befriedigende Antwort geben.
Ein Witzbold sagt wohl sogar im trockenen Tone: »Was wir machen? Nun, wir lassen uns 'nen Vollbart stehen.« – Oder ähnliche geistreiche Antworten, so daß der Fragesteller dann genau so klug ist wie vorher.
Diese Neugierde will ich nun, zumal sie nicht so unberechtigt ist, nach bestem Vermögen befriedigen.
Kaum einer von denen, die zur schönen Sommerzeit den starken Fremdenverkehr auf unseren Nordseeinseln beobachtet haben, kann sich vorstellen, wie die vom bunten Gewühl des Gäste durchfluteten Inseldörfer nach den Ferienmonaten dastehen, leer und ausgestorben. Doch wie schon dieser Gedanken auf den nachdenkenden Fremdling einen eigentümlichen und beinahe schauerlichen Eindruck macht, umsomehr befällt es auch den Insulaner selbst, wenn nach Schluß der Saison ein Kurgast nach dem anderen den Koffer packt und die Sommerladenmieter, die sog. Budenleute oder Einjahrsfliegen (weil sie schon im nächsten Jahre nicht wiederkommen), ihre Geschäfte schließen. Still und stiller wird's auf der Insel, und wenn gegen Ende September auch das Personal zum größeren Teil wieder zum Festland gewandert ist, dann fängt für den Insulaner schon der eigentliche Winter an. Dann ist er, zumal bei den unregelmäßigeren und selteneren Verbindungen mit dem Festland, und erst recht, wenn eine solche bei ungünstiger Witterung überhaupt unmöglich wird, sozusagen von der Außenwelt abgeschnitten und nur auf sich selbst angewiesen.
Um diese Zeit, wenn die ersten Stürme wieder über die Eilande dahinrauschen und das wogende Meer gegen Dünen und Steindämme brandet, in der Zeit, wo an schönen Herbsttagen strahlende Sonne auf Dünen und Meer herniederleuchtet und die ganze Natur Ruhe atmet, dann beginnt der Inselbewohner sich wieder auf sich zu besinnen.
Nach den vielen Leckerbissen der Saison sehnt sich jeder wieder nach einem Pottessen; all der während der Saison angelegte formelle Zwang fliegt über Bord und zu Tage kommt die urfriesische Natur der meisten Inselbewohner, die in der gemütlich-derben Art ihrer plattdeutschen Muttersprache alles gerade heraussagt und selten ein Blatt vor den Mund nimmt.
Tagsüber während der Arbeitszeit werden nicht viele Worte verloren, so daß der Insulaner von vielen Festländern für unfreundlich und sogar unhöflich gehalten wird. Dies muß jedoch, wenigstens in dieser Verallgemeinerung als Irrtum zurückgewiesen werden und jeder genaue Kenner der Verhältnisse wird bestätigen können, daß bei den Insulanern, wie überhaupt beim Friesenvolk ein kurzer Gruß oder ein Kopfnicken oft viel mehr Freundlichkeit und Achtung ausdrücken als ein umschweifiges Begrüßen und Hutabnehmen bei manchem Binnenländer. Doch auch die Menge der zu erledigenden Arbeiten läßt den fleißigen Leuten keine Zeit zu langen Gesprächen und für Zeitvergeudung. Dafür sind die langen Abende da, die mit geselliger Unterhaltung im Familienkreise ausgefüllt werden und so leicht keine Langeweile aufkommen lassen. Gefördert wird die Geselligkeit noch durch die infolge der starken gegenseitigen Verschwägerung bestehenden ausgedehnten Verwandtschaften, da sich ein jeder verpflichtet fühlt, den anderen gelegentlich zu besuchen oder einzuladen.
Ist der Inselbewohner auch schwer für allgemeine Angelegenheiten zu begeistern, so ist er umso mehr auf die Neugestaltung und Verbesserung des eigenen Betriebes bedacht. Was sich im letzten Sommer als unpraktisch oder unzweckmäßig erwiesen hat, wird nach bestem Können umgeändert und verbessert, und auch sonst wird keine Ausgabe gescheut, um das Haus rentabler und für die Gäste bequemer zu gestalten. Kurz und gut, das ganze Denken und Trachten stellt sich schon auf die kommende Saison ein, wenn die letzte erst kaum vorüber ist.
Es gibt viele Festländer, die den Insulaner um sein sorgenfreies Leben im Winter beneiden, sie ahnen nicht, welch ein sorgenreiches Leben auf den Inseln gerade zur Winterszeit herrscht. Ganz gleich, ob die Saison gut oder schlecht war, immer drängt sich wieder die bange Frage auf, wie sich die nächste gestalten wird. Auf alle Fälle muß mit dem erübrigten so disponiert werden, daß man nicht aufs Trockene gerät. Besonders schwierig ist es für die Einwohner unserer Nordseebäder, die lediglich auf den Verdienst der 8 bis 10 Wochen im Jahre angewiesen sind. Von ihrem in saurer Arbeit erkämpften Gelde müssen sie bis zur nächsten Saison auskommen, d. h. einmal sich und ihre Familie zu ernähren, ferner ihre Häuser in Stand halten und endlich noch ihre Steuer bezahlen.
Die vielen wirtschaftlichen Nöte und geschäftlichen Sorgen beeinträchtigen jedoch nicht das Bedürfnis nach gelegentlicher Ablenkung. Daher erklärt sich auch das ausgeprägte Vereinswesen auf unseren Inseln, das die Geselligkeit während der Wintermonate sehr pflegt.
Im eigentlichen Winter bildet die Jagd auf Hasen, Kaninchen und fliegendes Getier eine beliebte Beschäftigung der Einheimischen, wobei sie teils als rechtmäßige Jäger, teils als »Kanintjegravers«, wie die Wilderer, die es hier und da geben soll, genannt werden, dem edlen Waidwerk huldigen. Bei stürmischem Wetter ziehen viele an den Strand, um nach Urväterweise die vom Meer angeschwemmten Schätze zu bergen. – Der Sturm verlangt aber auch bei gewissen Gelegenheiten Aufopferung und Selbstlosigkeit dem Nächsten gegenüber; so bei Feuer- und Wassersnot, oder wenn arme Seeleute in Sturm und Wellen aufs Riff getrieben werden und Hilfe erbitten. In solchen Fällen werden sich alle mehr denn je ihrer Schicksalsgemeinschaft bewußt und mit zäher Ausdauer, die eine Haupttugend der Friesen ist, wird unter Hintansetzung des eigenen Lebens der Kampf gegen die Elemente aufgenommen.
Doch auch zu frisch-fröhlichem Sport bietet der Winter in reichem Maße Gelegenheit. Da ist vor allem das in ganz Friesland bekannte und beliebte »Klootschießen«, das aber frostiges Wetter und steinhart gefrorenen Boden erfordert. Dabei wird eine schwere, mit Blei ausgegossene Holzkugel von zwei Parteien auf einer mehrere Kilometer langen Bahn mit kräftigem Schwunge über den Boden geworfen. Dabei geht es reihum, und diejenige Partei ist Sieger, der es zuerst gelingt, ihre Kugel durchs Ziel zu schleudern. – Andere wieder vergnügen sich auf den zwischen den Dünen gelegenen Wasserdellen mit Schlittschuhlaufen, entweder paarweise oder in »Steertjes«, langen, hintereinander gekoppelten Ketten von Schlittschuhläufern. Am Ende der Bahn hält einer den vorderen Läufer fest und die ganze Schar schwenkt in sausendem Bogen herum, wobei viele unfreiwilligerweise die Bahn fegen müssen, d. h. zu Fall kommen. Auch die mit Schnee bedeckten Dünen, die wie fernes Hochgebirge im Sonnenlicht glänzen, bietem dem jungen Volk ein erstklassiges Gelände zum Schlittenfahren.
Für die Hausfrau gibt es im Winter Arbeit in Hülle und Fülle. Da stehen noch die großen Schränke voll Gardinen und Bettwäsche, die in der Saison nicht unerheblich leiden und deshalb nachgesehen werden müssen; da sind die lieben Familienangehörigen, die dringend warme Wintersachen benötigen. Auch der Haushalt muß wahrgenommen werden, all die Wäsche gewaschen werden und noch so vieles mehr; also – von Arbeitsmangel keine Spur!
Doch auch in ihrer Ruhezeit ist die Hausfrau keineswegs untätig, sondern beschäftigt sich mit Stricken und sonstigen Handarbeiten für die Ihren. An gewissen Abenden der Woche kommen auch wohl Geschwister und sonstige gute Bekannte zu einem Tee- oder Kränzchen-Abend zusammen, wo bei einem guten »Koppke Tee mit einem dicken Kluntje« allerhand Neuigkeiten erörtert und besprochen werden. Der Tee ist besonders das ostfriesische Nationalgetränk und wird mit einem Löffel »Rohm« (Sahne) und einem »Kluntje« (Kandis) in »Koppkes« (dünnen Porzellantassen) serviert. Der tägliche Besorgungsgang führt gegen Abend in die gewohnten Läden, wo dann meist noch ein bißchen geklönt und der übliche Dorfklatsch vorgenommen wird, und nach dem Abendbrot, wenn zufällig kein Besuch anwesend oder zu erwarten ist, geht es früh in die Koje (Bett), und nur der Wind singt sein eintöniges Lied dazu.
So geht der Winter unter Ernst und Scherz wie im Fluge dahin und bald kündet auch das Keimen und Sprossen in der Natur dem Inselbewohner den Wiederbeginn seiner sommerlichen Tätigkeit an. Zum sogenannten »Großreinemachen«, das in jedem Frühjahr stattfindet, trifft schon wieder viel Personal vom Festland ein, so daß in kürzester Zeit wieder ein geschäftiges Leben und Treiben allerorts herrscht. Da wird geschrubbt und gelüftet, Betten werden geklopft, die Häuser von außen und innen gestrichen und lackiert, wobei man auch viele Frauen mit Farbtopf und Pinsel sieht. Zuletzt werden auch noch die Straßen gereinigt und schon die ersten Gäste können mit Befriedigung feststellen, daß die Insel in alter Frische bereit ist zu neuen Taten.